Hamburg. Manchmal sind die Geschichten, die das Leben schreibt, unwirklicher als jeder Roman. Eine Begegnung, die als routinemäßiges Interview begann, endete für mich und meinen Gesprächspartner mit einer Enthüllung, die uns beide sprachlos machte und unser Verständnis von Zufall und Schicksal für immer verändern sollte.
Werbung
Alles begann mit einer Mail. Mein Auftrag: ein Porträt über einen aufstrebenden Architekten, dessen nachhaltige Stadtentwürfe gerade für Furore sorgen. Nennen wir ihn Thomas Berg. Ein typischer Vormittag in einem Café an der Alster, die übliche Vorbereitung: Aufnahmegerät, Notizblock, die vorbereiteten Fragen. Herr Berg traf pünktlich ein – ein sympathischer, nachdenklicher Mann Ende dreißig.
Das Gespräch verlief hervorragend. Wir sprachen über seine Visionen, die Verantwortung gegenüber künftigen Generationen und schließlich, ganz am Rande, über seine eigenen Wurzeln. „Die Familie ist mir wichtig“, sagte er. „Auch wenn der Großteil meiner Verwandtschaft verstreut ist. Mein Großvater mütterlicherseits kam nach dem Krieg aus Schlesien nach Westdeutschland. Er hat immer davon gesprochen, dass ein Teil der Familie damals verloren ging.“
Ein interessantes Detail, notierte ich. Einige Fragen später kam das Gespräch unweigerlich auch auf mich, auf meine Art zu fragen. „Und Sie?“, wollte Herr Berg wissen. „Was hat eine Journalistin dazu bewegt, gerade über Architektur zu schreiben?“
Ich lächelte. „Das ist eine lange Geschichte. Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich selbst aus einer Familie von Handwerkern komme. Mein Urgroßvater war Zimmerermeister in Ostpreußen. Die Liebe zum Bauen steckt wohl irgendwie im Blut.“
Thomas Berg sah mich plötzlich sehr aufmerksam an. Eine Pause entstand. „Ostpreußen? Das ist interessant. Mein Urgroßvater war ebenfalls Zimmerer. Er hat seine Familie während der Flucht verloren. Eine Tochter und ihren Sohn, meinen Großonkel, hat er nie wieder gesehen.“
Ein seltsames Kribbeln lief mir den Rücken hinunter. Zufall, dachte ich. Muss Zufall sein.
„Meine Urgroßmutter hat immer von ihrem Bruder gesprochen, der verschollen blieb“, fuhr ich fort, fast schon automatisch. „Sein Name war Emil.“
Die Farbe wich aus dem Gesicht von Thomas Berg. Er stellte seine Tasse ab, die klirrte laut in der plötzlichen Stille. „Emil“, wiederholte er leise. „Das… das war der Name meines Urgroßvaters.“
Was dann geschah, war ein ineinander verflochtener Strom von Erinnerungen, Fragmenten von Geschichten, die plötzlich zusammenpassten wie die Teile eines Puzzles, von dem wir nicht einmal wussten, dass es existierte. Die Namen der Dörfer, die Berufe, die Fluchtroute – alles stimmte überein. Wir saßen uns gegenüber, zwei Fremde, die sich duezen sollten, und erkannten, dass wir die Ur-Enkelkinder von Brüdern waren. Dass die Geschichte unsere Familie auseinandergerissen hatte und der pure Zufall – oder war es mehr? – uns nun über ein Interview wieder zusammengeführt hatte.
Die Atmosphäre war nicht mehr die eines journalistischen Termins. Es war ein Familienfest der seltsamsten Art. Wir bestellten ein weiteres Stück Kuchen und tauchten ein in die gemeinsame Geschichte. Das Aufnahmegerät war längst ausgeschaltet. Es ging nicht mehr um Architektur, es ging um uns.
Am Ende des Nachmittags standen wir mit dem Versprechen auf, uns bald wiederzusehen – diesmal mit unseren Familien. Ein geplantes Interview von einer Stunde hatte sich in vier Stunden gemeinsame Vergangenheitsbewältigung verwandelt.
Diese Begegnung hat mir eine wunderbare, neue Cousine beschert und Thomas einen weiteren Ast in seinem Familienstammbaum. Sie hat mir aber auch etwas anderes gelehrt: Wir alle tragen Geschichten in uns, die mit denen anderer verbunden sind. Manchmal liegen die erstaunlichsten Entdeckungen nicht in fernen Ländern, sondern in dem Café um die Ecke, versteckt in den Erinnerungen unseres Gegenübers.
Das Leben schreibt die besten Geschichten. Man muss nur genau zuhören.
